In der modernen Medizin genießt die Chirurgie ein hohes Ansehen. Doch trotz erheblicher Fortschritte in der Gleichstellung der Geschlechter sind Frauen in vielen chirurgischen Fachbereichen, einschließlich der Augenchirurgie, oft unterrepräsentiert. Zwar ist der Anteil der Augenchirurginnen seit 2015 von 26% auf etwa 34% gestiegen, doch würde bei diesem Tempo eine ausgewogene Geschlechterverteilung erst im Jahr 2038 erreicht werden.
Augenärztinnen, die eine Karriere in der Chirurgie anstreben, sehen sich mit verschiedenen Herausforderungen konfrontiert, darunter fehlende Aufstiegschancen, ein Mangel an weiblichen Vorbildern sowie die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Doch die Bedeutung eines höheren Frauenanteils in der Chirurgie kann nicht genug betont werden – insbesondere vor dem Hintergrund, dass Studien aus anderen Fachbereichen zeigen, dass die Langzeitergebnisse nach häufig durchgeführten Operationen bei Operateurinnen besser sind als bei ihren männlichen Kollegen.
Um sowohl die Herausforderungen als auch die Erfahrungen von Frauen in der Augenchirurgie besser zu verstehen, haben wir ein Interview mit Dr. med. Sigrid Sassmannshausen, Leitung Refraktive Chirurgie Cluster Wiesbaden bei ARTEMIS, geführt.
Was hat Sie dazu inspiriert, Augenärztin zu werden?
Meine Karriere begann in der Inneren Medizin, aus privaten Gründen wechselte ich dann in die Augenheilkunde. Diese Entscheidung war zunächst mehr von den Umständen und der Vernunft geprägt, doch mit der Zeit entwickelte sich eine leidenschaftliche Berufung für dieses Fach.
Wie war Ihr Weg in die Augenchirurgie?
Ich begann meine chirurgische Ausbildung bereits vor dem Abschluss meiner Facharztausbildung in einer kleineren Augenklinik. Anschließend führte ich eine eigene operative Praxis und bin nun seit 14 Jahren bei ARTEMIS tätig.
Sind Sie in Vereinen oder Verbänden aktiv?
Ja, ich bin Mitglied in mehreren Berufsverbänden. Besonders hervorheben möchte ich den Verein „Die Augenchirurginnen e.V.“ 4, der sich für die Förderung operativ tätiger Augenärztinnen einsetzt. Das vielfältige Angebot umfasst unter anderem Workshops, Fortbildungen sowie ein Mentoring-Programm, in dem erfahrene Chirurginnen jüngere Kolleginnen betreuen. Ich selbst betreue aktuell eine Mentee aus Österreich.
In zahlreichen Gesprächen unter Kolleginnen stelle ich immer noch fest, dass Frauen im chirurgischen Bereich deutlich mehr leisten müssen als Männer, um voranzukommen. Obwohl die Medizin weiblicher wird – 70% der Studienanfänger sind Frauen – bleiben die Aufstiegschancen für Frauen weiterhin schlecht. Diese schleppende Entwicklung ist sehr ernüchternd.
Zwar werden zunehmend mehr Frauen in der Augenchirurgie ausgebildet und sind dort auch später berufstätig, doch tragen sie nach wie vor den Großteil der Familienarbeit. Viele Kolleginnen arbeiten daher in Teilzeit, was ihre Aufstiegschancen erheblich mindert – insbesondere in großen Kliniken, wo Führungspositionen oft an Vollzeitkräfte vergeben werden. Leider bedeutet eine Karriere dort häufig immer noch den Verzicht auf eine Familie mit Kindern. Ich finde es großartig, wenn Frauen selbstbewusst sagen, sie möchten beides – Karriere und Familie. Männer schaffen das auch. Um die Vereinbarkeit zu verbessern, müssen flexible Arbeitsmodelle entwickelt werden. Leider hinkt die Medizin in dieser Hinsicht oft hinterher, und es gibt immer noch sehr wenige Frauen in leitenden Positionen großer Kliniken.
Der Deutsche Ärztinnenbund e.V. und der Marburger Bund haben Studien veröffentlicht, die zeigen, dass Schwangerschaften häufig erhebliche Einschränkungen in der ärztlichen Tätigkeit mit sich bringen. Etwa 60 % der befragten operativ tätigen Frauen berichten, dass sie unmittelbar nach Bekanntwerden ihrer Schwangerschaft nicht mehr operieren dürfen, was ihre Karrierechancen erheblich behindert. Arbeitgeber müssen sich intensiver mit diesem Thema auseinandersetzen. Initiativen wie „Operieren in der Schwangerschaft“ (OPidS) arbeiten an Lösungen, um dies für Schwangere, die weiterhin operieren möchten, ohne Risiko zu ermöglichen. Leider wird Schwangerschaft oft noch als Makel betrachtet, weshalb viele Frauen ihre Schwangerschaft verheimlichen oder erst spät melden. Es bedarf eines Umdenkens und einer intensiveren öffentlichen Diskussion, um diese Herausforderungen anzugehen. Auf diese gut ausgebildeten Fachkräfte kann das Gesundheitssystem nicht verzichten. Gute Lösungen werden zudem die Attraktivität des Arbeitgebers für Fachkräfte erhöhen.
Netzwerke wie „Die Augenchirurginnen e.V.“ spielen aus meiner Sicht eine große Rolle – sie wachsen stetig und gewinnen zunehmend an Bedeutung. Die Deutsche Ophthalmologische Gesellschaft (DOG) hat mittlerweile eine Sektion für die Gleichberechtigung von Frauen eingerichtet, was ein erster wichtiger Schritt ist. Es ist entscheidend, dass Frauen diese Netzwerke nutzen, zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen, besonders in einem männlich dominierten Bereich.
Ein wichtiger Meilenstein für mich war bzw. ist, im Level der High-Volume-Operateure tätig zu sein. Der Aufbau des refraktiven Bereichs bei ARTEMIS am Standort Wiesbaden und die Leitung dieses Bereiches ist für mich ein besonderer Erfolg in den letzten Jahren. Sehr bedeutsam war für mich auch, dass ich meine OP-Ausbildung erfolgreich abgeschlossen habe, während ich bereits Mutter von drei Kindern war.
Eine stärkere Ausbildungsfunktion im OP ist mir besonders wichtig. Ich möchte junge Operateurinnen intensiv unterstützen, meine operative Erfahrung weitergeben und sie bei ihren ersten Schritten im OP begleiten.
Welchen Rat würden Sie jungen Frauen geben, die eine Karriere in der Augenchirurgie anstreben?
Nichts wird einem auf dem Silbertablett serviert – man muss sich alles selbst erarbeiten. Mein Rat ist, beharrlich zu bleiben und Rückschläge als Teil des Weges zu akzeptieren. Der Weg ist selten geradlinig, aber Umwege können neue Perspektiven eröffnen. Wichtig ist, das Ziel im Auge zu behalten und sich nicht entmutigen zu lassen.
Was würden Sie sich von der medizinischen Gemeinschaft wünschen, um Frauen in der Chirurgie besser zu unterstützen?
Es muss ein Umdenken stattfinden und mehr Aufmerksamkeit auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelegt werden. Männer sollten ebenso selbstverständlich Elternzeit nehmen können wie Frauen, und die Arbeitsleistung von Frauen und Männern sollte gleich bewertet werden. Zudem ist es wichtig, Initiativen wie „OPidS“ Gehör zu schenken und klare, allgemeingültige Richtlinien für das Operieren in der Schwangerschaft zu entwickeln.